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und Foto: Stefan Jahnke
Leseprobe - Birkkenkreuz - Band 2: Der Verrat
Prolog (Auszug)
Kalt ist es. Der Schnee fällt nun schon eine Woche ununterbrochen. Wie es seine Heiligkeit schaffte, die Straße nach Bozen ohne Probleme zu passieren, nicht einmal mit der Kutsche in einer der vielen Schneewehen stecken zu bleiben, das weiß niemand, und Innozenz sieht dies als ein weiteres Zeichen für seine Gesandtschaft Gottes an. Ganz in Vertrauen wollte er auch sehen, ob Lorenz wirklich tot ist oder es sich wieder nur um eine Lüge handelt. So vieles las er in den Wochen, seit er die beiden Bischöfe auf ihre lange und sicher ereignisreiche Reise schickte. Ob sie noch leben? Nun, wenn es um eine gottgefällige Aufgabe geht, wird der Höchste auch über sie wachen. Vertat sich Innozenz und nutzen die Beiden ihn und seine Gutmütigkeit wieder nur aus, dann gibt es auch keinen Grund, sie am Leben zu belassen.
1488. Ein Jahr zum Fürchten. Und doch ein weiteres in der Gesandtschaft von ihm, ihm allein, auf Erden. Wer will sich erdreisten, seine Heiligkeit, seinen Glauben und sein Tun infrage zu stellen? Na ja, es gibt immer Neider und er weiß nur zu gut, dass es nie mit rechten Dingen zugeht, wenn ein Papst erst im dritten oder gar vierten Anlauf gewählt wird. Gottes Wille… wer seiner Kardinäle würde sich diesem wirklich widersetzen?
Egal.
Vorhin erst traf Innozenz im Kloster ein. Der alte Abt, den er selbst nicht berief, der aber nichts anderes zu tun hatte, als sich vor ihm in den dreckigen Schnee des Hofes zu werfen, der wollte gar nicht wieder aufhören, ihm zu huldigen. Drei Diener und einer der Mönche waren vonnöten, ihn nach oben zu zerren und schließlich dazu zu bringen, auf Innozenz Fragen zu antworten.
Seine Heiligkeit kennt sich aus. Besser vielleicht, als manch anderer, der den Stuhl Petri vor ihm bestieg. Wie wäre es denn sonst zu erklären, dass einige dieser alten Männer gar nach Frankreich flohen, weil ihnen ein König Angst machte?
Heiligkeit… Pha!
Nun ja, wenn man die Papiere liest, die er fand, als man ihm endlich den Zugang zu den Archiven unter der Engelsburg und im Lateran gewährte… ihm… dem Papst… ein Unding! Wenn er diesen Bögen glaubt, kann es keine Heiligkeit geben, sondern nur… Lügen. Wie bei Rohweder und Besseler.
Oh, Innozenz gesteht es sich nicht gern ein. Der Schmerz, der Schreck, all dies sitzt noch tief. Wie konnte sein Minister, sein engster Vertrauter ihn nur so hintergehen? Schande über diesen Kerl! Der ist… ist er wirklich eine Schande für Rom? Oder eher ein Aushängeschild, ein Abbild all dessen, was Rom, was der Vatikan, was die Kurie heute verkörpern? Innozenz schaudert bei diesen Gedanken.
Ach was… man muss sich keine Gedanken um das Gestern machen. Seine Entscheidung war richtig. Er hat es ihnen gezeigt… und gleich das Nützliche mit dem Nötigen verbunden. Sie sollen selbst dafür sorgen, dass ihre Geheimnisse bewiesen werden.
"Nun, alter Freund… nie haben wir uns gesehen. Aber ich glaube, ich kenne Deine Gedanken!"
Ein Stein. Nur ein Stein ist noch da. Der Abt konnte ihn nicht hierher führen. Auch wenn er verwundert und hoch erfreut war, dass der Papst nicht nach den ausstehenden Abgaben oder irgendwelchen Reliquien, sondern lediglich nach dem Grab des Paters fragte. Ein Dogma… Immerhin weiß man allerorten über den stets schwelenden und hin und wieder eskalierenden Streit zwischen Rom und Lorenz. Oder Lorenz und Rom? Ach was… da sind wohl alle gleich beteiligt. Niemand braucht zu denken, sich in den Hintergrund, unter die Unschuldigen schieben zu können.
Egal…
Ja, wirklich.
Egal.
Nun steht er also vor diesem schlichten Stein. Der Bruder, der ihn herführte und der die ganze Zeit von den bitteren Tränken berichtete, die Gott der Welt und gerade einem kleinen Kloster, wie diesem hier in Bozen, täglich neu bereithält, seinen Mund nicht halten konnte, der fegte den Stein aus einem Schneehaufen heraus.
Schlicht. Wirklich. Wie er ihn einschätzte.
Nichts wollte Lorenz bei sich behalten. Wie sagt man so schön? Das letzte Hemd hat keine Taschen. Nun gut… das sehen nur die armen Leute so. Leider. Wie oft musste er selbst erleben, wenn sich eine der Kaufmannsfamilien oder irgendein Ritter mit allem Schmuck und Pomp beisetzen ließ… und aus dem Süden, da, wo es nur Sand und Sonne gibt, da berichteten ihm einige Brüder mit der schwarzen Haut, dass sie hin und wieder mitten im Sande oder unter verrückten und monumentalen Bauten Gebeine finden, die man ganz in Gold kleidete. Ein gutes Fressen für all Jene, die den Tod nicht fürchten und gar die sterblichen Überreste der Heiligsten oder Höchsten auseinanderreißen, um an ein wenig Luxus zu kommen.
Nun ja… sterblich… die Hülle ist egal. Die Seele… die geht zu Gott. Oder eben ins Feuer. Aber daran will Innozenz jetzt nicht denken. Zu gefährlich, dass er sich selbst als für das Feuer bestimmt ansieht. Und dann… ist er nicht von Gott gesandt.
Der Bruder ist fort.
Allein, sich gegen Wind und Schnee wehrend, steht Innozenz am Grabe des Paters. Mehrmals fuhr er mit den Fingerspitzen den einfach hineingeschlagenen Namenszug am Stein nach, versuchte, sich in die Gedanken des Toten zu begeben. Erfolglos.
"Ist alles zu Ende, wenn es denn zu Ende ist? Sollte es doch nur eine Lüge sein?"
Erschrocken fast über seine Gefühle und darüber, diese auch noch auszusprechen, sieht er sich um. Niemand konnte ihn hören… wirklich niemand? Gott… ja, der allein sicher. Aber das zählt nicht.
"Was hast Du noch erfahren? Ist es Dein Nachlass, den diese beiden Dummköpfe in die Hände bekamen? Oh Gott, Lorenz… wie konntest Du gerade denen etwas anvertrauen, dessen sie nun wirklich nicht würdig sind! Aber gut… einen Grund, einen Sinn hatte es wohl. Vorbestimmung gar?"
Leicht wiegt er den Kopf hin und her.
Vorbestimmung. Ja, die könnte es auch sein. Immerhin schien der Weg gerade… der ihn nach Rom brachte und schließlich auch Rohweder zu Besseler… und beide vor ihn.
"Danke, Pater, danke… hab Dank für Deine lange und sicher schwere Arbeit. Wir werden versuchen, sie fortzusetzen. In Deinem Sinne!"
In seinem Sinne…
Was war denn im Sinne Lorenz'? Was wollte er wirklich? Die Wahrheit? Suchen wir die nicht alle? Oh, diese Mystik in allem… die ist nicht gut. Zu schnell gerät man auf Bahnen, die man nicht mehr kontrollieren kann. Aber Kontrolle ist… ist auch nicht gut. Denn sie verleitet dazu, nichts zu tun, um nichts falsch zu machen.
Innozenz zieht ein Pergament hervor, das er, vorsichtig gefaltet und stets versucht, trocken zu halten, seit Rom bei sich trägt. Nein, diesmal keine furchtbar alten Schriften mit einer krakeligen Bemerkung des Paters an der Seite. Es ist ein Vertrag… ein ganz besonderer. Lorenz schloss ihn… mit sich selbst. Als Innozenz diesen in die Finger bekam, konnte er sich auch die letzten Berichte über den Pater besser erklären.
Was steht da? Der Pater schwört sich bei allem, was ihm heilig ist, dass er nicht weiter an der Geschichte des Heilands zweifeln wird. Denn die Zweifel können einen krankmachen.
Wann schrieb er das? Mühsam, wegen des Windes kaum in der Lage, die Augen ganz zu öffnen, entziffert der Heilige Vater die Zahlen unten in der Ecke. Rom… überall sieht man da diese Ziffern. Nun ja, eine Errungenschaft, die sicher nicht schlecht ist. Nur, dass die Striche schnell ineinander verlaufen, aus einer Fünf auch mal beim flüchtigen Schreiben eine Zwei werden kann.
Oh… im Jahre seines Todes… Und doch hält er dieses Schriftstück in der Hand? Wie kommt, wie kam es nach Rom?
Nachlass… Rohweder erhielt die Truhe. Wie auch immer… der ist nicht in der Lage, mit einer päpstlichen Kutsche über die Alpen bis nach Böhmen zu fahren, ohne gleich überfallen und mit dem Tode bedroht zu werden… aber er erhält eine ganze Truhe mit Dokumenten über Hunderte von Meilen hinweg… auch noch anonym zugeschickt. Da werde mal einer schlau daraus!
Und dieses Dokument? Wieso kam ausgerechnet dieses nach Rom?
Hat es Besseler dem Rohweder abgeluchst? Nein, sicher nicht. Dann hätte er es nicht im Archiv gefunden.
Gut denn… egal. Aber es gibt einen Einblick in so vieles, was Lorenz war… oder eben auch nicht.
Starrsinn. Der wohnte bei ihm. Hatte er sich etwas in den Kopf gesetzt, dann blieb er dieser Idee auch treu. Oh, denkt Innozenz, oh, wenn ich an die Worte des Knochenmannes denke…
Knochenmann… nun ja, wie man sich seinen Namen verdient, ist bei dem in Trier sicher einfach nachvollziehbar. Aber egal… er muss sich nicht um diese Kleinigkeiten kümmern. Zu oft schon traf ihn später die Erkenntnis, dass dies alles unwichtig ist.
Starrsinn… Was lieferte sich Lorenz gerade mit Paul für wahre Schlachten! Einmal versuchte sein Vorgänger in Christi, Gott hab ihn selig, sogar, den bekannten Pater der Ketzerei anzuklagen. Das scheiterte wieder einmal am Einfluss des Paters. Nun ja, alle Hexenkommissare, die sich eh' lieber auf die Weiber, die ganz jungen legten… im wahrsten Sinne des Wortes… die standen dem Pater nahe. Nicht wegen seiner Lehren, sondern weil er Gott stets als den Höchsten ansah und daran nichts deuteln ließ. Besser so. Für alle. Den Pater natürlich eingeschlossen.
Kein Ketzer… denn, wer nicht angeklagt wird, ist auch keiner. Egal, was man über ihn redet. Und geredet hat Lorenz viel. Jeden Tag. Überall. Selbst auf seiner letzten großen Reise.
"Halsstarriger Kerl!"
In die Hölle, die ewige Verdammnis, dahin kommt man schnell. Gerade in diesen Tagen, wo doch der schnöde Mammon selbst den Vatikan regiert und alle nur nach Silber und Gold schreien, sich beim Höchsten bedienen wollen und mit seiner Gnade sogar Ablässe verkaufen, nur um selbst dadurch zu verdienen. Schande über sie!
"Starrsinn ist nichts für diese Welt. Nur Liebe und…"
Innozenz hält inne.
Liebe… die hatte er oft genug. Wenn auch oberflächlich. Ganz jung müssen sie sein. Und Lorenz wollte dies den Höchsten des Glaubens verbieten. Sie sollen sich freimachen von allem Weltlichen, endlich begreifen, dass sie nur so wirklich dem Glauben dienen können. Die Sünde, schrieb Lorenz irgendwohin, die regiert eh' alle Welt. Da muss nicht auch noch die Kurie diese leben.
"Halsstarrig… und der Welt abgewandt!"
Seine eigenen Gebrechen ließ er verleugnen… sogar vor sich selbst. Nun gut. Das tun viele. Gerade, wenn sie nicht zugeben wollen, dass sie ihrem Herrn nichts mehr wert sein könnten.
"Schön. Und was hast Du erreicht?"
Innozenz muss sich eingestehen, dass er ohne die Bemerkungen Lorenz' an einigen der Dokumente nie darauf gekommen wäre, dass etwas dran sein könnte an der Macht des Teufels über diese Welt.
"Er fand die Wahrheit und schloss einen Vertrag mit sich selbst, diese nicht als Wahrheit anzuerkennen. Sah er auch die Beweise?"
Nein, das kann nicht sein. Er hatte nichts dergleichen vor Augen. Wie war das? Er reiste mehr tot als lebendig zurück aus dem Norden, traf in Bozen ein, wurde gepflegt und soll zwar noch viel gelesen, auch einiges geschrieben haben, aber er sprach nie wieder.
"Schweigen… er vereinbarte Schweigen mit der Welt."
Wie oft führt er, Innozenz, wie oft führt er Gespräche mit sich, versucht, sich selbst von dem zu überzeugen, was er doch eigentlich nicht glaubt… oder glauben muss? Zu oft eigentlich. Und dann tritt er auf, stellt sich vor seine Kurie und verkündet seine Entscheidung. Gerade in den letzten Monaten musste er dies laufend tun, ohne einen zusätzlichen Rat einholen zu können.
Oh, er vermisst Besseler. Verdammter Narr! Wie konnte er ihn so hintergehen? Nun ja, eigentlich wollte er den Glauben bewahren… nein, das stimmt nicht. Die Kirche. Nur die Institution. Nicht einmal dachte er dabei an Gott, sondern nur daran, dass das Silber aus den Gemeinden nicht ausbleibt, die Wahrheit nicht etwa jemanden dazu verleiten könnte, sich abzuwenden.
"Du hast es gewusst und es auch so befolgt, wie es die Welt verdient. Aufgeschrieben, aber nicht mehr ausgesprochen!"
Den Heiligen Vater fröstelt. Er schaut an sich herunter, sieht, wie der viele Schnee, der unaufhörlich auf ihn fällt, sich im dichten und warmen Pelz seines Mantels verfängt, dann wegen der Wärme seines Innern ein wenig antaut, gleich wieder durch den eisigen Wind gefriert und sicher in ein paar Stunden einen dicken Eispanzer um ihn schließen würde.
Pelz… und die Armen der Welt? Wer kümmert sich um die?
Na ja, sie wärmen sich gegenseitig. Obwohl genau das die Kirche, seine Kirche, als Sünde darstellt. Und Lorenz tat so, als wenn dies alles richtig wäre. Ja, seine Kammer sah Innozenz vorhin. Er besaß einen Kamin. Ein Unding… nicht einmal sein Minister hat einen in seiner Schlafstube. Im Wohnbereich schon. Aber nicht… Dafür hatte Lorenz auch nur diesen einen Raum und war sicher bekannter in der so vergänglichen Welt, als mancher seiner Vorgänger und Nachfolger in Rom es jemals sein werden.
"Lorenz, Lorenz!"
Er war schon ein guter Mann. Ohne ihn stände er nun nicht hier, würde nicht schon wieder mit den Füßen den Schnee von dem kleinen Hügel schieben, der vor dem Stein anzeigt, dass der Mensch mehr ist, als nur Worte und Seele. Vergänglichkeit… vielleicht könnte man sich darauf einigen, dass die Seele eben nicht nur das ist, was bleibt, sondern doch die so sterbliche Hülle hinzugehört? Sind es denn nicht eigentlich die Züge im Gesicht, die Gebrechen oder auch die starken Muskeln, die den Menschen unverkennbar, nicht zu verwechseln machen?
Zu viel sinniert Innozenz, wenn er an diesen alten Mann denkt, der wohl gar einmal gemalt wurde. Dann, wenn er zurück ist im Kloster, muss er den Abt unbedingt nach dem Gemälde fragen. Ob es wohl irgendwo da hängt? Personenkult? Das wollte der Pater sicher nicht. Und der Orden auch nicht. Egal… er fragt trotzdem.
Und wieder schaut er auf das Pergament vor sich. Die Finger, in pelzbesetzte Handschuhe versteckt, werden langsam klamm und kalt. Dieses Wetter ist nichts für ihn! Und auch nicht für das Pergament… Die Schrift verwischt. Zuviel Feuchtigkeit. Schade eigentlich. Doch er kennt ja den Inhalt. Das reicht, mehr muss man nicht wissen.
Trotz allen Streites blieb sich Lorenz treu, überwarf sich mit niemandem endgültig. Das macht ihn noch größer, als er schon wegen seiner Recherchen und seinem sonstigen Sein war.
"Nun denn, alter Mann, dann lass uns einmal nachsehen, ob es wirklich eine Wahrheit gibt, die ganz anders ist, als die, die wir alle kennen und verehren!"
Der Papst denkt an Besseler. Auch an Rohweder. Aber der ist ihm zu geflissentlich. Immer darauf bedacht, dem Gegenüber nach dem Munde zu reden. Selbst wenn er damit vielleicht meist das Rechte tut und dann auch einsieht, was man machen kann und sollte, wenn man denn etwas verändern will, dann ist es eben… nervig.
Besseler ist anders. Nicht wie Lorenz.
Innozenz muss schmunzeln. Ist es nicht verrückt? Wie wäre es wohl, wenn er diese Drei, den Kardinal… nein, den Bischof, mit dem Pater und dem Kölner gemeinsam ausgesandt hätte, um die Wahrheit oder den Unsinn all dessen zu bestätigen? Oh, irgendwie hätten sie sich wohl gegenseitig in die Haare bekommen!
Noch einmal lacht Innozenz, ehe er wieder über den Stein streicht.
"Ein guter Mann… leider auch ein Toter!"
Er will sich umwenden, bekommt aber plötzlich einen Schreck, steht starr, als hätte ihn ein Bolzen dieser verdammten Armbrüste direkt ins Leben getroffen. Dabei wird niemand es wagen, auf einem Friedhof, einem Acker Gottes, einen so feigen und hinterhältigen Mord zu begehen… an einem Papst!
Oh ja, es gab Anschläge. Nicht umsonst wird nach einer Verfügung kein Körper eines verstorbenen Trägers des Fischerringes einer Beschau unterzogen. Nur die Reaktionen prüft man und erklärt den jeweiligen Heiligen Vater als tot… oder noch am Leben. So erging es einigen vor ihm, so wird es auch ihm ergehen. Wundersame, schlimme Geschichten kursieren im engsten Kreise der Kurie… lebendig Begrabene, die noch an die Holzbretter ihrer letzten Behausung hämmerten, als sich schon der Nachfolger auf den verwaisten Stuhl Petri setzte. Nun ja, schauerlich eben. Ob ihm so etwas auch beschieden sein wird, wenn er sich zu sehr um Dinge kümmert, die man lieber ruhen lassen sollte? Aber hier stirbt er heute nicht… wenn er nicht weiter stehen bleibt und doch noch erfriert.
Nur… starr steht er trotzdem da, spürt den Atem eines Anderen ganz nahe, sieht den Schatten neben sich.
"Heiliger Vater, ich wünsche Euch ein langes Leben!"
Dunkel ist diese Stimme. Trotz des Sturmes dringt sie direkt bis in den Kopf von Innozenz vor und er kann nicht anders, als bei diesen Worten leicht zu nicken. Wer aber zu ihm spricht… irgendeine geheimnisvolle Macht hindert ihn immer noch, sich umzudrehen und dem Manne hinter ihm… ja, ein Mann muss es sein und kein Weib, wie er sie oft schon bei verschiedenen Gängen an seinen Rockzipfeln hängen hatte… ihm einfach ins Gesicht zu schauen. Vielleicht hat er einfach nur Angst, dort kein Gesicht zu entdecken, überhaupt sehen zu müssen, dass diese Gestalt anders ist, als alles Irdische?
Einen Dummkopf schimpft sich Innozenz.
Angst vor einer Sagengestalt!
Dabei ist er es doch, der mit diesen Mythen aufräumen sollte, der den Glauben über alles zu stellen hat und der sich darum nicht scheren darf, dass man ihn irremacht, um ihn umzustimmen.
Umstimmen… ihn? Nein, das wird nicht geschehen. Aber die Bedrohung ist da, steht hinter ihm. Ganz nahe. Zu nah fast. Nun ja, schade eigentlich. Aber er kann es nicht ändern. Er selbst schickte den Bruder fort, konnte sich nicht mit ansehen, wie der in der dünnen Sutane bibberte und sich nicht ein bekam, aber auch nicht auf ihn, seinen höchsten Vorgesetzten auf Erden, hören wollte, als sie losgingen, sich einen dickeren Umhang zu besorgen.
Kälte… Kälte ist überall. In den Köpfen, in den Körpern… und auch in ihm selbst, dem Papst.
"Eure Heiligkeit, ich will Euch nichts tun, nur mit Euch sprechen!"
Sprechen… Versprechen des Bösen, um dann doch voll und ganz zuzuschlagen. Nein, darauf fällt er nun wirklich nicht herein. Er kennt die Wege des Teufels, die Art, wie er sich immer und immer wieder an denen vergeht, die sich leichtfertig in…
Halt…
Er steht am Grabe eines alten Streiters für den Glauben. Nicht für die Kirche. Die wollte er zwar vor Schaden bewahren, aber eben die Wahrheit des Glaubens über alles stellen und sich nicht dabei beirren lassen. Beirren… kann man sich immer lassen… nein, er nicht!
Der Pontifex, langsam zurück in seinem Ich, gibt sich einen gewaltigen Ruck und dreht sich auf den im Schnee steckenden Absätzen um.
"Ja, mein Herr?"
Obwohl es ihm wirklich nicht gut dabei ist, schaut er das Gegenüber mit klaren und offenen Augen an, versucht, alle Scheu vor dem Unbekannten abzuwerfen. Wenn ihm etwas geschehen soll, der Höchste also ein bestimmtes Vorhaben erkennen lässt und ihn prüfen will, dann… kann er es nicht abwenden.
‚Pater Lorenz, hilf mir. Ich werde auch Dein Werk bewahren und fortsetzen!', denkt er bei sich und erkennt im gleichen Moment ein ganz normales, nur eben mit einem dicken Tuch umrandetes Gesicht vor sich, über dem auch noch eine edel aus Pelz genähte Kappe sitzt, die an den Seiten sogar Klappen besitzt, die die Ohren zusätzlich wärmen sollen. So etwas sah er einmal, als ihn eine Abordnung des Zaren besuchte. Da stand noch lange nicht fest, dass er einmal der Höchste auf Erden sein wird…
Der Höchste…
Übertreibung ist es doch immer wieder!
Hoch… Höchster… wie kann man sich solche Gedanken auch nur anmaßen? Nein, er muss…
"Ihr kennt den alten Pater?"
Der Fremde stellte sich noch nicht vor und wirft ihm schon eine Frage entgegen. Das gefällt dem Heiligen Mann nicht. Andererseits sieht er auch keinen Grund, sich nun zu verleugnen. Er steht am Grab eines Weggefährten, den er nicht persönlich kennenlernte, der jedoch in vielen Dingen scheinbar genauso dachte, wie er selbst… und sich eines Tages entschloss, zu schweigen.
NEIN… er wird das nicht tun.
"Ja, ich kenne ihn… kannte ihn wohl eher. Er ist schon einige Jahre tot. Und bisher kam ich nicht dazu, ihn zu besuchen."
Der Fremde, hoch gebaut, mit einem verwegen wirkenden Bart im Gesicht, schwarzen Haaren, die ein wenig unter Kappe und Tuch hervorschauen, und weit auseinanderstehenden Augen, die darauf schließen lassen, dass er sicher nicht aus dieser Gegend ist, der mustert den Mann Gottes vor ihm von oben bis unten und nickt dann langsam.
"Hmm… gut, dass Rom sich entschließt, ihn zu ehren. Das würde ihn freuen. Ich kannte ihn wirklich, war gar mit ihm unterwegs und erlebte, wie er mit Gott und seinem Widerpart zu streiten pflegte. Na ja, so richtig gestritten hat er ja nie offen. Nur eben mit Argumenten. Aber ich erlebte ihn auch, als er keine mehr hatte. Damals lernte ich ihn kennen."
Innozenz glaubt an eine Fügung, die er so nicht wahrhaben will. Erst überführt er seinen Minister und den Bischof von Köln des Verrates und nun trifft er wirklich am Grabe dieses Paters jemanden, der ihn kannte… jemanden, der vielleicht Licht in das Dunkel um all diese Erzählungen und Lügen, Halbwahrheiten und Berichte bringen kann… oder noch mehr Chaos stiftet?
Chaos… das ist das rechte Wort.
"Ihr kanntet den Pater und lebt noch. Wie alt seid Ihr denn?"
Gut achtzehn Sommer ist es her… auch achtzehn Winter mit unterschiedlich viel Schnee. Der Mann vor ihm wirkt nicht so alt. Dann muss er fast noch ein Junge gewesen sein, oder?
Geflissentlich übergeht der Fremde die Frage des Papstes, steht nur da, schaut auf den Stein, der, genau wie der kleine Hügel davor, langsam wieder zuschneit.
"Vergänglich ist alles… und manches hält sich eben ein wenig länger. Das ist der Lauf der Welt. Aber, Heiliger Vater, Eure Eminenz und Heiligkeit, was führt Euch nun wirklich an dieses Grab, wo doch Lorenz eher einen Disput mit Eurem Amt hatte, als dass man ihn damals wie heute dafür ehren wollte? Immerhin stellte er ein Leben lang das Höchste infrage, oder?"
Sein Blick fällt auf das verlaufene Pergament in den klammen und sicher schon schmerzenden Fingern Innozenz'.
"Lorenz Schrift?"
Der Angesprochene zuckt förmlich zurück. Wie kann der Kerl denn wissen, dass Lorenz dies schrieb? Selbst ihm ist es kaum mehr möglich, noch ein Wort zu erkennen… Teufelswerk, Spuk… nichts Anderes. Ähnlich dieser verrückten Teufelsbibel, die Rohweder als Einziges aus seiner Kutsche rettete. Verrückt eigentlich… ein Zeichen Gottes, was es wirklich mit alledem auf sich hat? Wer will es guten Herzens behaupten? Niemand sollte so vermessen sein.
"Ja…"
Was bringt ihn dazu, dies zu gestehen? Der Fremde schaut sein Gegenüber lange an, bemerkt den Schnee und die Kälte wohl kaum und nickt nur langsam vor sich hin.
"Er wusste zum Schluss sicher nicht mehr, welche Dämonen ihn noch begleiten und welche ihm immer und auf ewig böse gesonnen sind. Denn er kämpfte nicht mit ihnen, ließ sie meist gewähren. Man könnte es fast so sagen, dass er sich nach ihnen sehnte. Denn er blickte nie auf die Höhen, stets aber in die Tiefen unserer Welt. Und was er dabei fand und niederschrieb, machte ihn nach und nach immer ärmer… und doch auch reich. Reich an Erfahrung, arm am Glauben. Darum schrieb er dies da…"
Der Mann mit den weit auseinanderstehenden Augen weist auf das Pergament in Innozenz Hand.
"Es sollte ein letzter Versuch sein, sich zu retten. Einfach retten… um… nun ja… um eben zu überleben. Aber nur Tage später war er tot. Ich glaube, dieses Pergament erreichte in diesen wenigen Augenblicken nicht einmal mehr Rom!"
Rom…
Lorenz schickte es nach Rom?
Der Mann kennt das Schriftstück, kann es sofort zuordnen. Das ist… verwunderlich. Nach achtzehn… Wintern…
"Nun denn, dass es natürlich so lange dauert, ehe im Schatten der Engelsburg jemand davon wirkliche Notiz nimmt… ist… nicht erklärbar. Nichtsdestotrotz bin ich froh, dass Ihr hier seid!"
Wer ist das? Wer, um alles in der Welt, kennt sich so gut aus, dass er sich diese Rede und die Art, wie sie geführt wird, einem Papst gegenüber anmaßen darf?
"Oh, Eure Heiligkeit, ich vergaß, mich euch vorzustellen. Verzeiht… Mein Name ist Baro Hinko Berka."
Berka…
War es dem Papst bisher kalt vom Sturm und trat er nun schon einige Zeit fest von einem auf das andere Bein, so zuckt er nun wirklich zusammen und es läuft ihm heiß und kalt zugleich über den Rücken. Ein Birke steht vor ihm, einer dieser Sippe, deren Oberer und angeblich nach Geburt letzter Tempelherr gerade von seinem Gesandten, diesem Maron, hoch im Norden gefoltert und sicher zu Tode gequält wird… Vielleicht hat er es schon hinter sich?
"Wie kommt Ihr hierher?"
Auf den Füßen… das wäre die Antwort, die Innozenz geben würde, stellte man ihm diese Frage. Aber er will vom Birken Antwort haben. Der schaut sich um. Vielleicht denkt er ebenso über solch eine Fügung der Antwort nach. Aber er schüttelt sich und schaut dem Pontifex fest in die Augen.
"Ich nahm das Kreuz. Bei alledem, was ich erfuhr und sehen durfte, war dies die einzige Möglichkeit für mich, noch mit mir und dieser Welt ins Reine zu kommen."
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