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Leseprobe - Weihnachtsgeschichten aus Dresden

 

Der Weihnachtsbaumdieb

Wieder ist Advent. Die Jahre vergehen schneller und schneller.
Baumschlagen bei starkem Schneefall. Wir stehen mitten im Wald zwischen Dresden und Stolpen und sind alles Andere als allein. Volksfeststimmung herrscht um uns herum.
Einen Weihnachtsbaum möchten wir uns aussuchen, ihn mit höchst försterlicher Genehmigung schneiden, um später zuhause zu erzählen, „der ist frisch und selbst gehauen!“
Buden stehen am Treffpunkt. Man verkauft Glühwein, Bratwurst, Feuerfleisch, gar abgepacktes Eis. Bei diesen Temperaturen? Natürlich darf der Stand mit erzgebirgischen Räuchermännern und Pyramiden nicht fehlen. Daneben werden „Original Pulsnitzer Pfefferkuchen“ angepriesen.
Die Waldarbeiter sind gut gelaunt, passen trotzdem auf, dass jeder Suchende seinen gefundenen Baum bezahlt. Neben der Kasse drehen sie auf Wunsch und völlig kostenfrei den Stamm ab, damit er in die europäisch genormten Ständer passt. Zu guter Letzt gönnen sie ihrem ehemaligen Waldbewohner eine Fahrt durch die konische Aluröhre, wonach er in einem Netz landet.
„Da hinten, junger Mann. Gehen Sie immer den Weg entlang. Der Kollege steht dann an der richtigen Stelle und weist Sie ein. Und keine Hatz. Bäume gibt’s genug!“
Gute Organisation. Man schaut sogar auf das mitgebrachte Werkzeug, verborgt eine Säge, wenn die des Baumsuchers nichts taugt, und gibt hilfreiche Tipps, wie die Käufer ihren Baum bis zum Heiligen Abend frisch halten. Es sind nur noch fünf Tage bis zum Fest.
„Trinken Sie vorher einen Glühwein. Dann wird es Ihnen nicht kalt. Den Baum legen Sie schnell um. Aber der Schnee dran ist kalt. Da brauchen Sie Wärme von innen. Werden Sie sehen!“, ruft einer und lacht dazu.

Selbst Schneiden ist „in“. Bereits seit Wochen stehen Unmengen der grünen Nadelkollegen aus anderen Wäldern an den Supermärkten, wollen sich anschauen lassen, scheinen ein wenig zu hüpfen und mit den Ästen zu wackeln, wenn sich jemand zum Kauf entschließt. Freuen sie sich doch genauso, wie ihre verschneiten Verwandten im Wald, auf die Tage im festlichen Kleid in oder vor der Weihnachtsstube.
Die Waldarbeiter erzählen nebenbei unglaublich klingende Geschichten. Von Menschen, die im letzten Sommer in eine der neuen Schonungen fuhren und sich nicht mit irgendeinem abgesägten Baum zufriedengeben. Sogar, wenn man sie erwischte, erfanden sie die verrücktesten Geschichten, um nicht als gemeine Diebe dazustehen.
Weiter vorn wartet jemand im dicken Watteanzug, der uns einweisen wird. Eben beginnt es wieder zu schneien und er äugt gar nicht begeistert nach oben, winkt uns trotzdem zu.
„Hier. Gehen Sie gut zwanzig Schritte und suchen sich einen aus. Links. Nicht rechts!“
Wir stapfen los. Wie einfach wäre es, mit dem frisch geschnittenen Baum nach hinten durch den weitläufigen Wald zu verschwinden. Ehrliche Menschen tun so etwas nicht.

Alte Erinnerungen an einen Weihnachtsbaumdieb tauchen auf. Irgendwann Anfang der Achtziger im Dresdner Ortsteil Gruna und ich war etwa vierzehn. Wir hatten Advent. Genauso wie heute. Schnee fehlte noch, aber der Wetterbericht versprach unglaubliche Schneemassen, die wir nach dem Bauernkalender erwarten sollten.
Damals waren die Geschäfte nicht wie heute übervoll. Was es trotzdem gab, musste man entweder kaufen, oder es eben lassen. Wie jedes Jahr drohte der Weihnachtsbaumkauf zum Problem zu werden. Nur eine Woche lang, meist Anfang Dezember, wurde der kleine Stand neben der staatlich geführten Kaufhalle geöffnet. Ich sehe den Verkäufer noch vor mir. Er trug eine russisch anmutende Armeemütze mit heruntergeschlagenen Ohrenklappen, dazu eine dicke, ausgewaschene Jacke und wattierte Lederhandschuhe. Sein Gesicht verriet das stete Aufwärmen mit Nikotin und starkem Alkohol.
„Na, wieder ’nen Boom?“
Verschmitzt lachte er. Oma war schon am Tag vorher bei ihm und suchte lange mit seiner recht unwilligen Unterstützung im wild hingeworfenen, lediglich aus Fichten und Kiefern bestehenden Haufen. Schließlich fand sie einen passenden Baum. Wie immer eine Kiefer, denn sie meinte: „Bloß keine Fichte. Die kommen mir nicht ins Haus. Verlieren so schnell ihre Nadeln. Dann stecken die noch im Herbst im Teppich!“
Einbildung hin oder her, stets hielten wir uns daran. Selbst heute suche ich Tannen und Kiefern, keine Fichten.
„Nur abholen oder noch was?“, fragte der Verkäufer und stand dabei qualmend wie ein Räuchermann im Verkaufsgatter.
Oma konnte den Baum natürlich gestern nicht tragen. Zu schwer für sie. Darum gingen diesmal sie, Mutti und ich zum Stand, um das edle Stück nach Hause zu transportieren. Dafür bekam der Verkäufer nicht nur ein paar Pfennige Trinkgeld, sondern zusätzlich eine Tafel Schokolade. Aus dem „Westen“.
Grinsend suchte er den zurückgestellten Baum heraus und zeigte ihn uns. Wirklich schön. Dankbar drückte ihm Oma die Kleinigkeiten in die Hand. Er schaute nicht einmal hin, brummte nur leise wegen der „Kälte“, dass er fast Probleme bekommen hätte, den Baum für uns aufzubewahren, und schaute nach weiteren Kunden, die brav am provisorischen Gatter rund um den Stand warteten und sich ihre eigenen Gedanken machten, als sie Oma und ihre kleinen Gaben sahen. Eine Frau giftete gleich: „Na, wieder bestochen? Immer die Gleichen!“ „Fertig?“, fragte man hinter uns. Noch staunten wir über den schön gewachsenen Baum und ignorierten die giftende Frau.
Der Verkäufer trampelte in seinen dickgefütterten Stiefeln auf dem Boden herum. Dabei rutschte ihm ein Hosenbein aus einem heraus und er fluchte. Ganz ohne Schnee, aber mit soviel Kälte, das hatte es lang nicht mehr gegeben. Wir suchten aus einem Berg abgebrochener Äste noch ein wenig Reißig zusammen. Die Familiengräber waren abzudecken und ein kleiner Strauß mit Strohsternen sollte bis Weihnachten das Wohnzimmer zieren. Natürlich passte dies einigen der vor dem Gatter Wartenden nicht. Wir beeilten uns.
Wir trugen den Baum. Er stachelte und wir bemühten uns, nicht anzuecken. Damals gab es noch keine Netze. Der Baum war trotzdem wunderbar. Fünf Etagen, daran schöne, feste und lange Kiefernnadeln. Durch diese konnte man den Stamm kaum erahnen. Gut würde er aussehen, da oben auf dem Buffet in Omas Wohnzimmer. Und links daneben lagen am Heiligen Abend meine Geschenke. Hoffentlich. Also auf nach Hause.
Dort angekommen, verschwand Oma gleich in der Küche. Der Topf mit dem Wasser stand bereits auf dem Balkon. Der Baum kam hinein. Dann lehnte er in der Ecke zwischen Hauswand und Brüstung. Man konnte ihn ruhig von draußen sehen. Das Wasser würde gefrieren. Zum Heiligen Abend und zum Anputzen bekamen wir ihn sicher heraus.
Inzwischen wanderte ein Teil des Reißigs in einen braunen Krug. Bald hingen unsere alten und immer noch schönen Strohsterne daran. Ein paar kleine Kugeln als Gruß vom Weihnachtsmann sorgten für Farbe. Ist das so richtig, der Baum wird angeschmückt? Nein, an den Weihnachtsmann glaubte ich nicht mehr. Das Gefühl jedoch, die Freude, die Familie. All das blieb. Weihnachten zählt nicht nur wegen der Geschenke.
Oma kam aus der Küche und jonglierte mit einem Tablett. „Lasst es Euch schmecken. Ist nicht zu süß!“ Glühwein und selbst gebackene Plätzchen brachte sie uns. Lecker! Für den Abschluss eines Weihnachtsbaumkauftages genau das Richtige.

Die Tage vergingen. Letzte Geschenke wurden gekauft oder gebastelt. Stollenpakete an die Verwandten in Westdeutschland gingen auf die Reise, besonders schwere Päckchen und Pakete von dort durften wir auf der nur um Weihnachten in einem privaten Keller untergebrachten Behelfspoststelle auf der Beilstraße abholen. Natürlich mit Handwagen. Schnee für eine entsprechende Schlittenfahrt fehlte.
An jenem Tag sollte der erste Schnee des Winters fallen. Nichts passierte. Na, noch blieb Zeit. Die zwei letzten Arbeitstage vor Weihnachten begannen. Nun stand sogar in unserer schulischen Frühstücksecke ein Weihnachtsstrauß. Brachte ich mit. Die Äste waren übrig.
Traditionell, wie an jedem 23. Dezember, holte ich den Baumschmuck aus der Dachkammer. Winterlich sah es ums Haus und auf dem Balkon aus. Der Schnee blieb endlich doch liegen. Meine Ferien begannen und vor Neujahr sah mich die Schule sicher nicht wieder. Vorsichtig stellte ich die Kartons mit den schon von Urgroßmutter geerbten Kugeln und einer mundgeblasenen Baumspitze in eine Ecke des Wohnzimmers.
Morgen, Kinder, wird geschmückt!, dachte ich dabei.

Gegen Mittag schrie Oma plötzlich auf. Ich lief in die Stube. Kreidebleich stand sie an der Balkontür, brachte kaum ein Wort heraus und schnappte nach Luft. Leise hauchte sie, „Der Baum, der Baum ist weg!“
Was? Fassungslos sah ich nach. Wirklich! Selbst der Topf fehlte. Vor zwei Stunden hatte ich beides noch gesehen. Ganz sicher! Spuren waren im Schnee und am Balkon. Jemand kletterte wohl über die Brüstung, stahl unsere schöne Hallelujastaude, wie wir den Baum manchmal nannten. Nur noch ein knapper Tag blieb bis Weihnachten. Das Fest der Feste. Ohne Baum?
Mutig atmete Oma durch und zog sich an, wollte zum Weihnachtsbaumverkauf. Der wurde bereits vor Tagen geschlossen, war schon verschwunden. Nur in der Stadt, irgendwo in Nähe des bekannten Dresdner Striezelmarktes, sollte es noch ein paar Bäume geben. Ich fuhr hin. Mit der Straßenbahn einen Baum heimbringen? Schwierig. Machbar? Irgendwie schon. Ob ich mit etwas Glück noch einen bekam? Und… dürfen 14-jährige Weihnachtsbäume kaufen?
Mutti war unterdessen außer sich, weil Oma immer noch über Herzschmerzen klagte und es einfach gemein war, einen gekauften Baum vom Balkon zu stehlen. Sie ging zum ABV. Heute könnte man ihn ‚Bürgerpolizist’ nennen, damals hieß er ‚Abschnittsbevollmächtigter’, eben ABV. Der Polizist des Vertrauens. Natürlich nahm er den Fall auf, machte uns jedoch wenig Hoffnung auf Hilfe und Gerechtigkeit. Er meinte: „Wie soll ich denn diesen Dieb und den Baum finden?“
Unterdessen kämpfte ich mit mehr als dreißig anderen verzweifelten Kaufwilligen auf dem letzten Baumverkauf der Stadt um einen Ersatz. Jeder schrie: „Ich will auch einen, gehen Sie doch mal rüber!“ – „Alle Bäume sind alle!“, „Die sind ja fürchterlich!“, und viele andere Schreie klangen mir in den Ohren.
Irgendwann hielt ich etwas Reisig und zwei Stämme in den Händen. Was waren das für Krüppel! Ohne richtige Etagen, schief gewachsen. Nicht einmal ein Förster würde so etwas in seinem Wald dulden. Darum lagen sie wohl hier! Bohrer, Säge und ein paar zusätzliche Zweige mussten da Abhilfe schaffen und mir beim Basteln eines einigermaßen ansehnlichen Baumes helfen. Es wäre ja gelacht, wenn wir das wichtigste Fest des Jahres ohne Baum feierten!

Zuhause angekommen, begann der Kurs „Aus Zweien mach Einen“, und schließlich stand eine Kiefer mit ein paar Tannen- und Fichtenzweigen im Zimmer und blieb auch da. Die kam uns nicht mehr auf den Balkon. Geschmückt wurde sofort. Nun gerade!
Was soll ich sagen? Es wurde ein schönes Fest. Die Geschenke waren zweitrangig. Lange standen wir gemeinsam vor dem Baum, sangen ein Lied nach dem anderen und wollten uns nicht sattsehen an ihm. Dass schon zu Silvester der erste Ast herunterfiel, die Fichtennadeln der Ersatzzweige noch Jahre später unter dem Buffet und im Teppich zu finden waren, störte nicht. Wichtig war der Baum mit seinem Schmuck, den Lichtern, seiner Botschaft. Und unser Fest. Mit unserem gemeinsamen Werk. Seither hat das alte Lied „Oh Tannenbaum“ für mich eine ganz andere Bedeutung.

Als im Februar des Folgejahres Post vom ABV kam, wunderten wir uns sehr. Ein Nachbarjunge war aufgefallen, weil er auf einer Brache in der Nähe einen Kiefernstamm verbrannte, sich dabei wie Rumpelstilzchen aufführte und Kiefernnadeln im kleinen Feuer zum Knacken und Puffen brachte. Er kam ein paar Tage später mit seinem Vater zu uns, brachte den übrig gebliebenen Topf zurück, entschuldigte sich und musste einiges von seinem Taschengeld abgeben. Oma schenkte ihm einen kleinen Weihnachtsmann aus Schokolade und meinte;: „Mach’s nicht wieder, ja?!“ Sicher hielt er sich daran.

„So, nehmen Sie den? Macht 15 Euro“, werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Schon dreht sich die Spindel und der Baum erhält einen ordentlichen Anschnitt. Danach kommt er ins Netz. Ich freue mich aufs Weihnachtsfest. Außerdem schmeckt die Bratwurst heute besonders gut. Mit Glühwein wird mir wieder warm.

„Papa, warum brauchen wir einen Baum? Geschenke reichen doch!“, fragt mein Sohn.
Irgendwann, mein Junge, irgendwann erzähle ich Dir die Geschichte von jener Weihnacht ohne, nein, fast ohne Baum.

--- Fröhliche Weihnachten! ---

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